Die Bündner Wirren

"Keulen der Verzweiflung": der Prättigauer Aufstand in der Vorstellung des Künstlers Gottlob Emil Rittmeyer, 1820-1904.

Als "Bündner Wirren" wird die von politischen Turbulenzen, Lynchjustiz, Krieg und Pest geprägte Periode der Bündner Geschichte von 1618 bis 1639 bezeichnet. Parallel zum Dreissigjährigen Krieg wurde der Dreibündestaat in diesen Jahren zum Spielball der geopolitischen Ambitionen seiner mächtigen Nachbarn Spanien-Österreich einerseits und Frankreich-Venedig andererseits. Das Strafgericht in Thusis 1618, der Veltliner Mord von 1620, die Besetzung des Prättigaus und des Unterengadins durch die Truppen des Erzherzogs Leopold und der Prättigauer Aufstand vom Frühling 1622 sind in besonders düsterer Erinnerung geblieben.

Im geopolitischen Zangengriff

Die ausländischen Machthaber

1535 fiel das Herzogtum Mailand an die spanisch-habsburgische Krone. Nun waren die habsburgischen Gebiete in Österreich von denen im Süden nur durch das Veltlin getrennt. Das Veltlin seinerseits war seit 1512 ein Untertanengebiet des Dreibündestaat. Der freie Durchpass durch das Veltlin und über die Bündner Pässe war für die Habsburger von höchster strategischer Bedeutung. Gleichermassen waren Frankreich und Venedig als Rivalen Habsburgs bemüht, den freien Durchpass für sich selbst zu sichern.

Europakarte um 1600
Die geopolitische Lage um 1600

Venedische und Spaniolen

Durch ihre Ambassadoren, Envoyés und Secretari übten die vier Nachbarn mit Zuckerbrot und Peitsche Druck aus auf die Drei Bünde, die Gerichtsgemeinden und die bündnerische Führungsschicht. Diese war in eine habsburgisch-spanische und eine venedische Partei gespalten. Verstärkt wurde der Zwist durch konfessionelle Gegensätze innerhalb der Bünde sowie die Ängste der katholischen Veltliner Untertanen. Sie hielten die von den Bündner Herren geförderte Konfessionsfreiheit für einen Versuch, im Veltlin heimlich die Reformation einzuführen.

Die Demokratie zerfällt

Ab 1617 führte der Zerfall der ordentlichen demokratischen Prozesse zu bürgerkriegsähnlichen Szenen und zum Überhandnehmen der wilden Strafgerichte mit ihrer Lynchjustiz. Doch bereits beim Aufruhr von 1607 zeigte sich zum ersten Mal, wie tief das Land gespalten war. Der starke Wille und die reich fliessenden finanziellen Mittel der Nachbarmächte trafen in den Bünden auf schwache politische Institutionen und eine verbreitete Bereitschaft zur Annahme von Bestechungsgeldern unter den Angehörigen der Führungsschicht, den sogenannten Grossen Hansen. Die Bestechungsgelder nahmen verschiedene Formen an, z.B. Pensionen/Renten, Geschenken, Adelstiteln, Lehen und Ämtern.

Aber auch der "gemeine Mann" mischte mit: Die politische Souveränität lag bei den Gerichtsgemeinden, und so hatte zumindest theoretisch jeder Bürger die Möglichkeit, eine Abstimmung zu beeinflussen.

Neue und alte Forschungen

Chronist auf höchstem Niveau: Fortunat Sprecher von Bernegg, 1585-1647

Die politischen und militärischen Verwicklungen, die sich aus diesen Voraussetzungen entfalteten, waren genau so wirr, wie ihr Name vermuten lässt. Ob diese Wirrheit eine abschreckende Wirkung entfaltet oder die akademische Geschichtsforschung gegenwärtig einfach andere Prioritäten hat, entzieht sich unserer Kenntnis; auf jeden Fall ist es bemerkenswert, dass die einzige aktuelle Gesamtdarstellung der Bündner Wirren der deutschsprachige Wikipedia-Artikel zu sein scheint. (Literaturhinweise werden gerne auf dem Offenen Platz entgegengenommen!)

Die Chronik des Fortunat Sprecher von Bernegg

Die Wikipedia-Autoren stützen sich auf Gesamtdarstellungen der Schweizer Geschichte und auf Darstellungen der Bündner Wirren aus dem frühen 19. Jahrhundert. Dagegen wurden für "Bergünerstein" neben Studien zu Teilaspekten von Historikern des 20. und 21. Jahrhunderts vor allem zeitgenössische Chroniken verwendet. Die detaillierteste unter diesen ist die "Historia motuum et bellorum" von Fortunat Sprecher von Bernegg, die 1856 von Conradin von Mohr unter dem Titel "Geschichte der Kriege und Unruhen, von welchen die drei Bünde in Hohenrätien von 1618 bis 1645 heimgesucht wurden" auf deutsch herausgegeben wurde.

Die Lektüre dieser Chronik stellt hohe Ansprüche an die geneigte Leserschaft: unzählige Abstimmungen ("Mehren") zu immer wieder denselben Fragen sind verzeichnet, endlose Truppenbewegungen, alle Täter und Opfer der vielen Strafgerichte samt den verhängten Bussen und Strafen. Häufige Strategie- und Allianzwechsel der Mächtigen im In- und Ausland und der immer wieder unkontrolliert aufschäumende Wille des aufgebrachten Volkes sorgen für zusätzliche Verwirrung.

Die Bündner Wirren in Bergün und im Oberengadin

"Bergünerstein" zeigt die Auswirkungen dieser Wirren auf eine Gerichtsgemeinde und ihre Bevölkerung ab 1603, dem Jahr, in dem die Drei Bünde ihr verhängnisvolles Bündnis mit Venedig abschlossen.

Venedische und Spaniolen in Bergün

Dank den zeitgenössischen Chroniken und den Quellen lässt sich das Abstimmungsverhalten der Gerichtsgemeinde Bergün zumindest teilweise nachvollziehen. Es zeigt sich eine wechselnde Haltung in den beherrschenden Frage der Zeit: Soll das Bündnis mit Venedig beibehalten, abgeschafft oder erneuert werden? Soll Venedig der Durchpass und die Werbung von Söldnern gewährt werden?

Offensichtlich war die Gemeinde in dieser Frage gespalten, und es ist gut möglich, dass der Graben in Bergün gleich verlief wie in der benachbarten Gerichtsgemeinde Oberengadin: Die stimmberechtigten Familienväter standen auf der Seite Spaniens und des Augustin Travers, die übrigen Einwohner, d.h. unverheiratete Männer und Hintersässen ohne Stimmrecht, auf der Seite Venedigs und Johanns, des Bruders von Augustin.

Frauen als Friedensstifterinnen im Oberengadin

Dieser Streit zwischen den beiden Brüdern, bei dem es hauptsächlich um die Besetzung von Ämtern im Engadin und im Veltlin ging, führte 1617 zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit mehreren Toten; ein typisches Beispiel für den erwähnten Zerfall des politischen Prozesses.

Beim Streit der Brüder Travers sorgten am Ende die Frauen dafür, dass weiteres Blutvergiessen vermieden und eine Kompromisslösung gefunden wurde; und so sind auch die Frauen in "Bergünerstein" keine passiven Zuschauerinnen oder Opfer, sondern greifen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv ins Geschehen ein.

Zeitgenössische Chroniken

Sprecher von Bernegg, Fortunat: Geschichte der Kriege und Unruhen, von welchen die drei Bünde in Hohenrätien von 1618 bis 1645 heimgesucht wurden. Auf Deutsch herausgegeben von Conradin von Mohr, Chur 1856. (Online verfügbar hier.)

Juvalta, Fortunat: Denkwürdigkeiten. Auf Deutsch herausgegeben von Conradin von Mohr, Chur 1848. (Online verfügbar hier.)

Anhorn, Bartholomäus: Der Graw-Pünter Krieg. Herausgegeben von Conradin von Moor, Chur 1873.

Anhorn, Bartholomäus: Püntner Aufruhr im Jahr 1607. Herausgegeben von Conradin von Moor, Chur 1862.

von Salis-Marschlins, Ulysses: Des Mareschal de Camp Ulysses von Salis-Marschlins Denkwürdigkeiten. Auf Deutsch herausgegeben von Conradin von Mohr, Chur 1858. (Online verfügbar hier.)

Ardüser, Hans: Wahrhafte und Kurz vergriffene Beschreibung etlicher Herrlicher und Hochvernambter Personen, in alter Freyer Rhetia Ober Teutscher Landen. Chur, 1598. (Online verfügbar hier.)

Ardüser, Hans: Hans Ardüser's rätische Chronik. Herausgegeben auf Veranstaltung der bündnerischen naturhistorischen Gesellschaft. Nebst einem historischen Commentar von J. Bott, etc. Erschienen als Beilage zu den Jahresberichten XV-XX der N.G. (Neudruck von British Library, Historical Print Editions: London, 2011.)

 

Literatur

Wendland, Andreas: Vom Nutzen der Pässe und der Gefährdung der Seelen: Spanien, Mailand und der Kampf ums Veltlin, 1620-1641. Zürich, 1995.

Head, Randolph C.: Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden : Gesellschaftordnung und politische Sprache in einem alpinen Staatswesen, 1470-1620. Zürich, 2001.

Head, Randolph C.: Jenatschs Axt : soziale Grenzen, Identität und Mythos in der Epoche des Dreissigjährigen Krieges. Chur, 2012.

Pfister, Alexander: Georg Jenatsch: Sein Leben und seine Zeit. Basel, 1951.

Pieth, Friedrich: Bündnergeschichte. Chur, 1945.