Der Freistaat der Drei Bünde
Freistaat statt Feudalherrschaft
Der Freistaat der Drei Bünde bildete sich ab dem 14. Jahrhundert. In dieser Zeit zerfiel die Feudalherrschaft auf dem Territorium des heutigen Kantons Graubünden, und es entwickelte sich eine basisdemokratische Regierungsform. Mit dem Bundesbrief von 1526 erhielt der Dreibündestaat eine Form, die er bis zur Eingliederung in die Eidgenossenschaft als Kanton Graubünden 1803 beibehielt. Von 1512 bis 1797 gehörten zudem das Veltlin und die Grafschaften Chiavenna und Bormio als Untertanengebiete zum Dreibündestaat.
Im Folgenden werden einige Aspekte des Dreibündestaats beleuchtet, die im Roman «Bergünerstein» eine besonders wichtige Rolle spielen.
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Die Drei Bünde – der Obere/Graue Bund, der Gotteshausbund und der Zehngerichtebund – unterschieden sich in ihrer Entstehung, ihrer Sprache und ihrer Religion, und in jedem gaben andere Familien den Ton an (Wikipedia gibt einen kurzen Überblick). Immer wieder kam es vor, dass nicht alle drei am gleichen Strick zogen – insbesondere während der Bündner Wirren.
Loser Staatenbund ohne gemeinsame Institutionen
Dies lag unter anderem auch daran, dass es beim Dreibündestaat nur um einen losen Staatenbund handelte, der keine gemeinsamen Behörden, keine gemeinsame Rechtssprechung und keine gemeinsame Kasse kannte. Koordiniert wurde vor allem die Aussenpolitik und ab 1512 die gemeinsame Verwaltung der Untertanengebiete, wobei die Souveränität in allen Fragen bei den Gerichtsgemeinden lag.
Bundstage und Beitage
Entscheidungen wurden auf den regelmässig stattfindenden Bundstagen getroffen, zu denen die Gerichtsgemeinden ihre Boten entsandten, oder auf den Beitagen, die bei Bedarf in kleinerer und wechselnder Besetzung tagten. Die Boten waren angehalten, die Instruktionen ihrer Gemeinden genauestens zu befolgen; hatten sie zu einer Frage keine Instruktion, konnte nicht entschieden werden. Dies geschah zum Beispiel auf dem Beitag im Januar 1617, als der venedische Secretario Padavino um Erlaubnis bat, die Gerichtsgemeinden auf einer kleinen Rundreise in eigener Person von den Vorzügen eines neuen Bündnisses mit Venedig zu überzeugen. Der Beitag konnte mangels Instruktion der Boten zu dieser Frage nicht entscheiden, und Padavino begann seine Rundreise trotz Bitten der Häupter, Besuche bei einzelnen Gemeinden per favore zu unterlassen.
«Mehren»: das Gemeindereferendum
Da die Bundes- und Beitage vor allem in Zeiten von Aufruhr und Krieg zwar häufig stattfanden, aber doch nicht permanent tagen konnten, wurden viele Fragen in schriftlichen Referenden entschieden. Die drei Häupter (der Landrichter des Oberen Bundes, der Bürgermeister von Chur und der Bürgermeister von Davos) schrieben die Frage auf die 48 Gerichtsgemeinden aus, und diese hatten innerhalb einer gegebenen Frist ihre Antwort («Mehren») nach Chur zu senden. Die Frist wurde oft nicht eingehalten, und auch die Antworten waren meistens komplizierter als «ja» oder «nein». Ebensogut möglich waren «vielleicht», «unter der Bedingung, dass...» oder «ja aber...». Es oblag den Häuptern, in einer «Klassifikation der Mehren» diese vielfältigen Meinungsäusserungen zu sortieren und auf dieser Grundlage die gestellte Frage dem Mehrheitswillen gemäss zu entscheiden.
«fier» und «belliqueux»
Dem französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529–1596) gefiel die basisdemokratische Staatsform der schweizerischen Urkantone und der Bündner gar nicht. Sie seien «plus fier, & plus belliqueux» als die anderen Schweizer und regierten sich «du tout populairement». Die übrigen Schweizer seien dagegen «plus traitables» und regierten sich «plus aristocratiquement». Ob eine aristokratische Regierungsform für die Bündner der Frühen Neuzeit besser gewesen wäre oder nicht, bleibe hier dahingestellt; sicher ist, dass die Regierungsform des Dreibündestaats umständlich und langsam war und kaum geeignet dafür, Druck von aussen oder zentrifugalen Kräften von innen standzuhalten. Die tragischen Ereignisse der Bündner Wirren bezeugen dies nur allzu deutlich.
Online
Die Drei Bünde auf Wikipedia.
Der Gotteshausbund auf Wikipedia.
Der Graue Bund im Historischen Lexikon der Schweiz.
Der Gotteshausbund im Historischen Lexikon der Schweiz.
Der Zehngerichtebund im Historischen Lexikon der Schweiz.
Artikel Demokratie im Historischen Lexikon der Schweiz.
Literatur
Hitz, Florian: Fürsten, Vögte und Gemeinden. Politische Kultur zwischen Habsburg und Graubünden im 15. bis 17. Jahrhundert. Baden, 2012.
Head, Randolph C.: Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden : Gesellschaftordnung und politische Sprache in einem alpinen Staatswesen, 1470-1620. Zürich, 2001.
Historisch-Antiquarische Gesellschaft des Kantons Graubünden (Hrsg.): Festschrift 600 Jahre Gotteshausbund. Chur, 1967.
Pieth, Friedrich: Das altbündnerische Referendum. Bündner Monatsblatt, 1958.
Pieth, Friedrich: Bündnergeschichte. Chur, 1945.
Gillardon, Paul: Geschichte des Zehngerichtebundes: Festschrift zur Fünfjahrhundertfeier seiner Gründung 1436-1936. Davos, 1936.
Verschiedene Autorinnen/Herausgeber: Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden. Online abrufbar hier. Dort insbesondere die Einleitungen.
Bodin, Jean: Les six livres de la République. Paris, 1577. Online abrufbar hier. (Zitat über die Bündner auf Seite 517.)
Im Freistaat der Drei Bünde lag die Souveränität bei den Gerichtsgemeinden. Sie waren es, die Boten an die Bundstage entsandten, sie waren es, die die Gerichtsbarkeit innehatten (einzig im Oberen Bund gab es ein Appellationsgericht, das für den ganzen Bund zuständig war). Die Gerichtsgemeinden erliessen eigene Zivil- und Kriminalgesetze (Statuten) und nach der Reformation auch Ehegesetze.
Wechselnde Anzahl von Gerichtsgemeinden
Es gab ungefähr 48 Gerichtsgemeinden. Die Zahl blieb während der Jahrhunderte, die der Dreibündestaat Bestand hatte, nicht stabil. Immer wieder teilten sich Gerichte oder wurden zusammengelegt. Die Grenzen der zivilen und der Kriminalgerichtskreise verliefen teilweise unterschiedlich; so versuchte z.B. Samedan immer wieder, sich gegen die Übermacht von Zuoz als Hauptort der Gerichtsgemeinde Oberengadin zu behaupten und ein eigenes Gericht zu werden. Aber es gelang ihm schliesslich nur, in Zivil- und niederen Kriminalsachen eine eigene Gerichtsbarkeit zu bekommen. Die Blutsgerichtsbarkeit verblieb bei Zuoz.
Nicht zu verwechseln mit den Gerichten sind die «Hochgerichte» – administrative Zusammenschlüsse von Gerichtsgemeinden zu grösseren Einheiten zum Zwecke der Stimmen- oder Ämterzuteilung. So bildeten beispielsweise Bergün und Obervaz ein Hochgericht oder auch Stalla und Avers mit dem entfernten Ramosch.
Nachbarschaften und Gemeindeämter
Fast alle Gerichte bestanden aus mehreren Nachbarschaften, die den heutigen Dörfern entsprechen. Zum Gericht Bergün gehörten Latsch, Stuls und Filisur mit Jenisberg (damals Valplauna genannt). Die Bürger der vier Nachbarschaften versammelten sich jedes Jahr am 16. Oktober auf dem Platz in Bergün zur Wahl ihrer Gerichtsbehörden: Mastrel (Ammann), Statthalter, Schreiber, Geschworene. Auch andere Gemeindeversammlungen zur Entscheidung der zahlreichen Referenden wird es gegeben haben, wobei nicht davon auszugehen ist, dass die Nachbarn von Filisur oder Stuls sich bei jedem Referendum nach Bergün bemühen mussten.
Der Mastrel und seine Kollegen waren für die Gerichtsbarkeit zuständig und für die Leitung und Vertretung der Gerichtsgemeinde in politischen Angelegeheiten zuständig.
Cuvihs organisieren die Landwirtschaft
Das Zusammenleben innerhalb der Nachbarschaft und die Organisation der landwirtschaftlichen Arbeiten, insbesondere die gemeinsame Bewirtschaftung der Allmende (Alpen, Wälder, Wasser, Gemeindeweide) oblag den ebenfalls gewählten Dorfmeistern, Romanisch Cuvih (Bergünerisch: Cuej). Diese konnten sich bei ihrer Arbeit auf die Dorfordnung (Tschantamaint) berufen, die von jeder Nachbarschaft für sich selbst festgelegt wurde.
Stimmrecht ab 14, 16 oder nach der Hochzeit?
In den meisten Gerichten waren alle Männer mit Bürgerrecht stimmberechtigt, sobald sie die Schwelle zum Erwachsenenalter überschritten hatten und als waffenfähig galten. Dies war üblicherweise im Alter von 14 oder 16 Jahren der Fall. Aus dem Oberengadin ist aber eine Textstelle überliefert, die nahelegt, dass dort nur Familienväter Bstimmen durften. Im Zusammenhang mit seiner Beschreibung des Streites der Brüder Augustin und Johann Anton Travers schreibt Sprecher in seiner «Geschichte der Kriege und Unruhen»: «... worauf es sich zeigte, dass die Parthei des Augustin die Mehrheit der Stimmen hatte, wenn man nach den Statuten der Gegend nur diejenigen zählte, welche Familienväter waren, sonst wog die andere Parthei an Zahl des Volkes vor.»
Auch aus Bergün berichtet eine Quelle von 1610, dass es dort Nachbarn gab, die nicht stimmberechtigt waren – allerdings ohne Angaben dazu, welche das waren. Im Roman «Bergünerstein» wird davon ausgegangen, dass die Bergüner in diesem Punkt ihren Oberengadiner Nachbarn folgten und das Stimmrecht ebenfalls den Familienvätern vorbehielten.
Quellen
Die Zivil-, Ehe- und Kriminalstatuten bzw. die auf diesen aufbauende Rechtssprechung verschiedener Gerichtsgemeinden wurden vom Schweizerischen Juristenverein in seiner Sammlung der Rechtsquellen des Kantons Graubünden veröffentlicht:
Zivil-, Ehe- und Kriminalstatuten des Oberengadins (herausgegeben von Andrea Schorta).
Zivil- und teilweise Kriminalstatuten der Gerichtsgemeinden im Unterengadin (herausgegeben von Andrea Schorta).
Zivil-, Ehe- und Kriminalstatuten sowie Dorfordnungen des Münstertals (herausgegeben von Andrea Schorta).
Urteile und andere Dokumente aus der Surselva - erster und zweiter Band (herausgegeben von Adrian Collenberg).
Gesetze und Rechtssprechung des Gerichtes Langwies (herausgegeben von Elisabeth Meyer-Marthaler).
Einzelne zusätzliche Statuten wurden an verschiedenen Orten publiziert:
Zivilstatuten Ramosch 1655 (herausgegeben von P. Högberg, Annalas da la Societad Retorumantscha).
Kriminalstatuten Bergün (digitalisiertes Manuskript, Kopialbuch von 1719), Bibliothek der Universität Pennsylvania.
Die zumeist aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden Dorfordnungen (Tschantamaints, Aschantamaints, Schentamaints etc.) zahlreicher Nachbarschaften des Grauen und des Gotteshausbundes wurden in den Annalas da la Societad Retorumantscha veröffentlicht und sind auf e-periodica abrufbar:
Ardez, Bever, Bravuogn e Latsch (Bergün und Latsch), Breil, (Brigels), Celin (Tschlin), Filisur, Flem (Flims), Ftan, Fürstenau und Ortenstein, Lavin, Madulain, Medel, Mustér (Disentis), La Punt-Chamues-ch, Puntraschigna (Pontresina) I, Puntraschigna (Pontresina) II, Ramosch (Remüs), Samedan, San Mauretzen (St. Moritz), Sarn, S-chanf, Schlans, Schlarigna (Celerina), Schons (Schams), Scuol (Schuls), Segl (Sils im Engadin), Selvaplauna (Silvaplana), Sent, Zernez.
Literatur
Head, Randolph C.: Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden: Gesellschaftsordnung und politische Sprache in einem alpinen Staatswesen, 1470-1620. Zürich, 2001.
Mathieu, Jon: Von Bauern und Bären: Eine Geschichte des Unterengadins von 1650 bis 1800. Zürich, 1987.
Padrutt, Christian: Staat und Krieg im alten Bünden. Zürich, 1965.
Pieth, Friedrich: Bündnergeschichte. Chur, 1945.
Caduff, Gian: Die Knabenschaften Graubündens. Chur, 1929.
Der stetige Kampf um das nächste Veltliner Amt zieht sich durch alle drei Bände des «Bergünerstein».
Was hat es damit auf sich?
Amtsleute verwalten das Untertanengebiet
1512 eroberten die Drei Bünde das Veltlin und die Grafschaften Bormio und Chiavenna. Sie gewannen dadurch nicht nur eine Wein- und Kornkammer mit angenehmem Klima, sondern handelten sich auch die Aufgabe ein, diese neuen Untertanengebiete zu regieren und zu verwalten. Konkret bedeutete dies das Einziehen von Steuern und die Ausübung der Gerichtsbarkeit. Nach einer improvisierten Anfangsphase bürgerte es sich bald ein, dass alle zwei Jahre neun Amtsleute in die Untertanenlande entsandt wurden: Der Landeshauptmann und sein Stellvertreter, der Vicari, die in Sondrio residierten, der Commissari in Chiavenna und die Podestaten in Tirano, Morbegno, Trahona, Teglio, Piuro und Bormio.
Lukrative Ämter, Korruption
Die Ausübung dieser Ämter war für den Amtsträger mit einigen Kosten verbunden. Sie bot aber auch die Chance auf reiche Einkünfte: Steuereinnahmen fanden auf wundersame Weise den Weg in die Tasche des Amtsträgers statt in die Staatskasse, Strafen konnten in Geldbussen umgewandelt werden, die ebenfalls an den Amtsträger gingen. Es ist daher wenig erstaunlich, dass diese Ämter extrem begehrt waren. Die Kandidaten liessen kein Mittel ungenutzt, um an ein Amt zu kommen.
Wahlreform bringt keine Besserung
Bis 1603 wurden die Amtsträger vom Bundestag gewählt, wobei ein Turnus zwischen den Bünden und Gerichten eingehalten wurde und diese ein Vorschlagsrecht hatten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wuchs die Unzufriedenheit mit diesem System, weil es der Korruption Vorschub leistete. 1603 beschloss der Bundstag eine Reform. Neu waren die Ämter innerhalb der Gemeinden zu besetzen, und zwar nach einem genau festgelegten Wahl- und Losprozedere. Dies half allerdings dem Übel der Korruption nicht ab; neu musste einfach innerhalb des Gerichts bestochen werden statt auf dem Bundestag.
Die Ämter werden verkauft
Die Steuereinkünfte, die vorher auf die Bünde verteilt und von diesen an die Gemeinden weitergegeben worden waren, wurden nach der Reform direkt den Gemeinden ausgezahlt. Die Idee war, dass diese dann das Geld an ihre Bürger weiterverteilten. Doch dies konnte nicht immer durchgesetzt werden. Es bürgerte sich ein, dass ein Kandidat der Gemeinde eines oder mehrere der nächstfolgenden Ämter abkaufte und dafür die Einnahmen behalten durfte.
Drei Klassen von Ämtern
Die Ämter wurden gleichmässig auf die Drei Bünde aufgeteilt. Innerhalb der Bünde bekamen die Gerichte aber sehr unterschiedliche Anteile am Ämterkuchen ab. In der für Band I relevanten Periode von 1571–1619 herrschte im Gotteshausbund der folgende Verteilungsschlüssel: Die Gerichte Chur, Ober- und Unterengadin, Bergell Ob- und Unterporta sowie Fürstenau besetzten die einträglichen und prestigeträchtien Ämter des Landeshauptmanns, des Vicari und des Commissari (wobei Chur regelmässig mit Gerichten aus den anderen, wenigen einträglichen Gruppen tauschte bzw. tauschen musste). Die zweite Gruppe bestand aus den Gerichten Oberhalbstein-Tiefencastel, Puschlav, Ortenstein und IV Dörfer, die sich die mittelprächtigen Podestatereien von Tirano, Trahona und Piuro teilten. Das Schlusslicht bildete die Gruppe mit Bergün-Obervaz (Greifenstein), Stalla-Avers-Ramosch und Münstertal, denen die am wenigsten einträglichen Ämter von Morbegno, Teglio und Bormio zustanden.
Alle zwölf Jahre ein Bergüner Podestà
Für Bergün bedeutete dies, dass alle zwölf Jahre ein Vertreter ins Veltlin entsandt werden konnte. Aus dem 17. Jahrhundert sind mehrere Verträge zwischen den sechs Gerichten der Bergüner Gruppe erhalten, in denen die Zuteilung der nächsten Ämter vereinbart wurde. Die Aufstellung der tatsächlichen Amtsträger zeigt aber, dass die Abmachungen nicht immer eingehalten wurden. Bergün als relatives Schwergewicht in seiner Gruppe vermochte beispielsweise das uninteressante Bormio weitgehend zu vermeiden. Und selbstredend bekam innerhalb des Gerichts Bergün immer ein Bergüner das Amt, niemals jemand aus Filisur, Stuls oder Latsch!
Reale Machtverhältnisse
Auch auf der Ebene der Gerichte ist der Verteilschlüssel ein Ausdruck der real herrschenden Machtverhältnisse. Sie entspricht nur teilweise der protokollarischen Rangfolge der Gotteshausgerichte, wie sie Fortunat Sprecher in seiner Rhätischen Chronik von 1617 darstellt. Chur, das protokollarisch an erster Stelle steht, hat bei der Ämterverteilung das Nachsehen, während das Ober- und das Unterengadin in der obersten Liga mitmischen, obwohl sie protokollarisch weiter unten angesiedelt sind.
Unbeliebte Herren
Die Herrschaft der Drei Bünde im Veltlin und den beiden Grafschaften war bei den dortigen Untertanen alles andere als beliebt. Unter den Amtsleuten waren Korruption und Inkompetenz weit verbreitet – es wurden Amtsträger entsandt, die keine juristischen Kenntnisse hatten, kein Italienisch sprachen oder manchmal sogar Analphabeten waren! Zudem waren viele der Amtsleute reformiert, und man befürchtete, die bündnerischen Herren würden irgendwann den Untertanen die Reformation aufzwingen. Wie tief der Hass auf die Herren in der Untertanenbevölkerung sass, zeigte sich anlässlich des Veltlinermordes 1620, der auf grausamste Weise die kriegerische Phase der Bündner Wirren einleitete.
Literatur
Collenberg, Adolf: Die Bündner Amtsleute in der Herrschaft Maienfeld 1509-1799 und in den Untertanenlanden Veltlin, Bormio und Chiavenna 1512-1797. Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Graubünden, 1999.
Wendland, Andreas: Vom Nutzen der Pässe und der Gefährdung der Seelen: Spanien, Mailand und der Kampf ums Veltlin, 1620-1641. Zürich, 1995.
Quellen
Vereinbarung der Gerichte Bergün, Vaz, Avers, Stalla, Ramosch und Münstertal bezüglich der Ämterbesetzung, Januar 1603. Staatsarchiv Graubünden, Bundestagsprotokolle Bd. 8, S. 184, Signatur AB IV 1/001.
Vertrag zwischen Gerichten Obervaz, Bergün, Stalla, Avers, Remüs, Schleins u. Münstertal, abgeschlossen zu Ponte betr. Verteilung der Aemter, welche früher dem halben Hochgericht Untercalven zukamen, April 1653. Staatsarchiv Graubünden, Landesakten, Signatur A II LA 1/1653 April 21.
Erlass des Gotteshausbundes "...über die Differenz zwischen H. Landshauptm. Planta, und interessirten Gmeinden Bergün, Overwatz, Stalla, und Münsterthal an einem, und H. Hauptman Andreas von Saliβ am anderen Theil, betreffende dem Zug der Ämter so H. Hauptm von den Gmeinden Ramüss und Schleins erkaufft hatte, Ao. 1656", April 1662, Staatsarchiv Graubünden, Dekretenbücher, S. 32, Signatur AB IV 4/11
Die Gemeinde als Gericht
Im Dreibündestaat oblag die Zivil- und Kriminalgerichtsbarkeit den einzelnen Gerichtsgemeinden. Mit Ausnahme des Appellationsgerichtes im Grauen Bund gab es keine höheren Gerichtsinstanzen. Gelangten Streitparteien in einen «Rechtsstillstand», d.h. konnte ein Gemeindegericht zu keinem Urteil kommen, wandten sich die Parteien mitunter an den Bundestag ihres Bundes. In solchen Fällen bestellte beispielsweise der Gotteshausbund ad-hoc-Schiedsgerichte, wie sie in Band I mehrmals vorkommen. Wenn zwei oder mehr Gerichtsgemeinden untereinander Streit bekamen, hatten sie sich an eine andere, am Streit nicht beteiligte Gerichtsgemeinde zu wenden, die dann als Schiedsrichter auftrat.
Strafgerichte bei Vergehen gegen den Staat
Was aber, wenn Einzelpersonen oder Gerichtsgemeinden dem Staatswesen der Drei Bünde Schaden zufügten? In diesem Fall bildeten die Träger der Souveränität, nämlich die Gerichtsgemeinden, ein Strafgericht. Die Gemeinden zogen mit ihren Fahnen aus und versammelten sich an einem vereinbarten Ort, um die (vermeintlichen) Vaterlandsverräter zur Rechenschaft zu ziehen. Solche Volksgerichte traten während der gesamten Geschichte des Dreibündestaats immer wieder auf.
Strafgerichte kosten Geld
Zu einer Häufung von derartigen Strafgerichten kam es, nicht überraschend, während der Bündner Wirren. Abwechslungsweise stellten die spanische und die venedische Fraktion Gerichte auf, die die Vertreter der jeweils anderen Richtung zu harten Strafen verurteilte und zum Teil sogar hinrichtete. Das nächste, von der Gegenpartei aufgestellte Strafgericht kassierte dann solche Urteile regelmässig, und auch der Bundestag konnte manches Urteil revidieren oder aufheben. Zahlen mussten die Verurteilten aber häufig trotzdem – nicht eine Busse, sondern das «Audienzgeld». Denn so ein Strafgericht kostete viel Geld: Die Wirte, bei denen die Richter wohnten und tafelten, wollten bezahlt werden, die Richter, Gäumer (Wächter), Schreiber etc. forderten ihren Lohn.
Besonders berüchtigt: das Strafgericht von Thusis, 1618
Das Berüchtigtste aller Strafgerichte war dasjenige in Thusis von 1618, an dem die fanatischen jungen Prädikanten die tatsächlichen und vermuteten Spaniolen reihenweise aburteilten, den siebzigjährigen Johann Baptista von Prevost, genannt Zambra, hinrichteten und den gesundheitlich angeschlagenen Erzpriester von Sondrio, Nicolò Rusca, so grausam folterten, dass er an der Folter starb. Auch Bergüner waren am Thusner Strafgericht beteiligt: Steffen Linard als Richter, Jöri Claet als Weibel, Johann Peter Jecklin und Steffen Keel als Angeklagte sowie Mastrel Cla als Tröster (Bürge) für einen gewissen Christoffel Gees. In Band I finden wir zudem Plesch an den Gerichten von Thusis und später Davos – als Gäumer (bewaffneter Agent und Wächter des Gerichts) obliegt es ihm, Gefangene zu bewachen und Urteile wie dasjenige für Ritter Rudolf Planta (Chavalier Raduolf) zu vollstrecken, dessen Haus niedergerissen werden sollte.
Film
Der Film "Jenatsch" von Daniel Schmid (1987) gibt atmosphärisch starke Einblicke in das Gebaren der Prädikanten am Strafgericht in Thusis 1618.
Literatur
Planta, Peter von: Chronik der Familie Planta nebst verschiedenen Mittheilungen aus der Vergangenheit Rhätiens. Zürich, 1892. Hier insb. Seite 125 zum 16. Jahrhundert.
Kind, Christian: Das zweite Strafgericht in Thusis 1618. Jahrbuch für Schweizerische Geschichte, Bd 7, 1882.
Quellen
Akten des Strafgerichtes Thusis 1618 im Staatsarchiv Graubünden, Signatur AB IV 5/13 (Findmittel: Register zu den Spezial- und Gerichtsprotokol-
len, Urbaren und Rödeln von 1618 bis 1646, Signatur CB II 1360 a 09 (Teil 05)).
Akten des Strafgerichtes Davos 1619-1620 im Staatsarchiv Graubünden, Signatur AB IV 5/13a (Findmittel: Register zum Protokoll des Strafgerichts von
Davos von 1620, Signatur CB II 1360 a 14).