9.2.18

In den letzten Monaten haben meine Figuren und ich viele Stunden miteinander verbracht - gefährliche, stille, lustige, traurige, schmerzhafte... Die fiktiven Figuren gewinnen mit jedem Tag und jedem Erlebnis an Kontur und Persönlichkeit, während es bei den historischen Figuren darum geht, ihnen durch kreative Recherchen in durchaus voyeuristischer Weise auf die Schliche zu kommen.

Denn meine historischen Figuren - allesamt keine Prominenten - haben kaum damit gerechnet, dass sich im fernen Jahr 2018 jemand für Details ihres Lebens und Charakters interessieren würde. Wahrscheinlich hat keiner und keine von ihnen eine Sammlung von Briefen oder Tagebüchern für die Nachwelt angelegt. Falls es doch jemand getan haben sollte, haben die Dokumente nicht überlebt, und alle Informationen, die ich über sie finde, sind nur zufällig erhalten.

Um so aufregender ist es, plötzlich die Handschrift einer Figur kennenzulernen! Oder einen Brief zu sehen und zu lesen! Zu sehen, wer schön schrieb, wer lateinisch schrieb, wer gut Italienisch konnte und wer weniger, wer im Krieg wo welche Funktion hatte, wer den Krieg und die Pest überlebt hat.

Was für eine Freude, nach langem Werweissen endlich Gewissheit zu erhalten, dass eine Figur nicht jung gestorben ist, sondern sehr alt geworden ist! Sofort wünscht man ihr nicht nur ein langes, sondern auch ein glückliches Leben, beginnt sich ein Familienleben und berufliche Erfolge auszudenken.

Wie traurig hingegen, wenn eine Figur wirklich jung gestorben ist und die aufkeimende Freundschaft zu ihr ein abruptes Ende findet.

Der Eindruck des Voyeurismus verstärkt sich durch das Bewusstsein, dass ich mit ziemlicher Sicherheit die erste bin, die sich überhaupt je mit diesen Personen befasst hat. Ich habe also einen exklusiven Blick auf sie, von dem sie nichts wissen, und auch sonst niemand.

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